Der Donnerstag hat seinen Betrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt. d. Red.

KASSELDOCUMENTA 13

Maybe? Plurality!

15. August 2012 von Anna-Lena Wenzel
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Wimmelcollage von Geoffrey Farmer auf der d13 (Foto: Anders Sune Berg)
Zur Halbzeit der Documenta ätzt der Kritiker Paul-Hermann Gruner bei Deutschland Radio Kultur über die „massive Überbefriedigung“ der Ausstellung. Er spricht von einer „Versupermarktung der Kunst“, die er in den enormen Besucherzahlen ebenso festmacht wie an der „Riesenhaftigkeit“ der Documenta. Im nächsten Schritt kritisiert er die Schwammigkeit der Kuratorin und wirft ihr vor, sie würde künstlerisch wahllos um sich werfen. Aber ist die Kuratorin wirklich wahllos, nur weil sie den Kunstbegriff in seine Grenzbereiche führt? Und eine zugegebenermaßen blumige Sprache wählt? Mir scheint diese Kritik exemplarisch zu sein, für die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn eine Kuratorin sich einem eindeutigen „Labeling“ verweigert. Wenn beim Ausstellungsmachen auf ein alles überragendes Motto, einen Titel oder ein eindeutiges kuratorisches Konzept verzichtet wird und es stattdessen um die Vielgestaltigkeit und die Grenzbereiche von Kunst geht.
Nicht nur erfolgreiche Ausstellungen wecken bei der Kritik automatisch Misstrauen. Auch eine Ausstellung, die keinen schmissigen Übertitel hat oder zumindest das Label „kritisch“ oder „politisch“ vor sich herträgt, hat es schwer. Gab es bei der Documenta 12 mit der „Migration der Formen“ und den Leitmotiven wenigstens noch Anknüpfungspunkte, verweigert sich die Kuratorin der 13, Carolyn Christov-Bakargiev (kurz: CCB), noch konsequenter jeglichem Überthema. Stattdessen steht auf dem Flyer: „Der Tanz war sehr frenetisch, aufbrüllend, rasselnd, klingelnd, verdreht, rollend und dauerte eine lange Zeit.“ Diese freien Assoziationen, der provisorische Charakter ihrer Konzepte und ihr Ausschweifen wurden der Kuratorin bereits im Vorfeld der Documenta – zum Beispiel auf ihrer Tour durch deutsche Kunsthochschulen – vorgeworfen. Sie können, wie Gruner sagt, wahllos wirken, sie können aber auch Freiräume für individuelle Annäherungen geben. Statt der Kunst eine Ideologie überzustülpen und durch die Vorgabe eines Themas Interpretationssteilvorlagen zu geben, überlässt es CCB den Betrachtern, den vielfältigen Denkanregungen und Themenpfaden zu folgen, die in den Arbeiten angelegt sind (statt sich in einem konzeptuellen Überbau zu verstecken).

Meine These wäre, dass das kuratorische Konzept von CCB sehr eng angelehnt ist an die künstlerischen Haltungen, die sie ausstellt: sei es das notizhafte und zaudernde oder das ganzheitliche (im Sinne einer Nähe von Mensch und Natur) und nichtlogozentrische Denken. Diese „künstlerische“ Herangehensweise weckt jedoch Misstrauen. Gehört eine gewisse Uneindeutigkeit bei Künstlern dazu, wird sie bei Kuratoren von der Presse häufig kritisiert. Dabei sind Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit eben nicht gleichzusetzen mit Beliebigkeit, sie werden nur schnell als diese identifiziert – weil es schwierig ist, die Ausstellung unter diesen Aspekten schnittig zu kritisieren oder leserfreundlich zu verpacken.

Tatsächlich treibt die Vielgestaltigkeit der documenta einen in verschiedenste Grenzbereiche der Kunst und macht ein zusammenfassendes Urteil fast unmöglich. Da räumt die Kuratorin dem Quantenphysiker Anton Zeilinger einen ganzen Raum ein, da werden neben den ersten Computern Aquarelle von Konrad Zuse gezeigt, da wird die Reinigung des Aschrottbrunnens neben dem Kassler Rathaus zu einer Performance, der Bunker unter dem Weinberg begehbar und Hüter einer Videoarbeit. In der Aue finden sich Soundinstallationen, mobile Gärten und Threening Workshops, die der Dynamik „zwei gegen einen“ einen Riegel vorschieben. Und es gibt tatsächlich ein paar Hunde zu sehen, allerdings weniger als erwartet.
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Kai Althoffs Brief und CCB's Mut zur Lücke (Foto: Roman März)
Auch die Auswahl der Künstler ist heterogen. Sie ist traditionell international, aber nicht automatisch zeitgenössisch. Es gibt eine Reihe von älteren Positionen, vor allem Künstlerinnen, wie Emily Carr (1871-1945), Charlotte Salomon (1871-1943), Margaret Preston (1875-1963), Maria Martins (1894-1973), Hanna Ryggen (1984-1970), Aase Texmon Rygh (1925), Etel Adnan (1925), viele davon interessante Entdeckungen. Neben Versuchsaufbauten werden Briefe und Skizzen präsentiert, u.a. der berührende, weil sehr persönliche Brief Kai Althoffs an CCB, in dem er seine Absage formuliert. CCB knüpft damit an die documenta 12 an, die ebenfalls einen sehr breiten Kunstbegriff vertrat und politische, formal-ästhetische und kunsthandwerkliche Arbeiten miteinander kombinierte, und eine ähnliche Auswahl von Künstlern zeigte – Amar Kanwar, Sanja Ivecovic, Simryn Gill und Nedko Solakov waren schon damals dabei.
Wiederkehrende Themen sind das Zusammenleben von Mensch und Natur (Kristina Buch, Pierre Huyghe, Christian Philipp Müller), die Wahrnehmung von Zeit (William Kentridge, Goshka Macuga, Anri Sala), übersinnliche Phänomene wie Telepathie (John Menick, Walid Raad, Paul Ryan), aber auch der Postkolonialismus (Maria Thereza Alves, Kader Attia), politische Themen wie die Aufstände indischer Bauern gegen Landaufkäufe großer Unternehmen (Amar Kanwar), die Frage alternativer Ökonomien (Caire Pentecost, Time/Bank), die Wirkungen traumatischer Erlebnisse auf Individuen und Gesellschaft (Omer Fast, Sopheap Pich, Michael Rakowitz) und ortspezifische Themen wie die Geschichte des Benedikterklosters Breitenau bei Kassel (Gunnar Richter, Clemens von Wedemeyer). Neben der Breite der Themen besticht diese documenta durch die vielen Orte, an denen sie agiert. Neben den klassischen Ausstellungsorten sind dies zum einen weitere Museen wie die Orangerie (Astronomisch-Physikalisches Kabinett), das Ottoneum (Naturkundemuseum) und das Grimm-Museum sowie kunstunspezifische Orte wie die Weinbergterrassen, das alte Elisabethkrankenhaus, die Handwerkskammer und das Grand City Hotel Hessenland. Der Documenta gelingt damit das, was die Berlin Biennale anstrebte, aber nur peripher umsetzte: Die Ausstellung in der Stadt zu verankern, in den Alltag hineinzuragen und dadurch heterogene Publika anzusprechen.
Auch die Entscheidung, die Aue mit Pavillons zu bestücken, ist aufgegangen. In den zum Teil individuell gestalteten Pavillons (ähnlich der „Weltausstellung“ auf dem Tempelhofer Feld in Berlin in diesem Jahr) zeigt sich exemplarisch, was sich in Bezug auf die gesamte Ausstellung sagen lässt: Die Kuratorin hält sich angenehm zurück. Besonders im Vergleich zur letzten Documenta fällt das auf. Statt einzelne Werke, mit denen anderer Künstlern zu kombinieren, stellt CCB eher Werkgruppen aus. Wenn sie kombiniert, wird es allerdings spannend: zum Beispiel die Serie von Apfelzeichnungen von Korbinian Aigner, die mit den ebenfalls sehr penibel und genau recherchierten Soziogrammen von Mark Lombardi in einem Raum gezeigt werden, oder die surrealen Welten von Salvador Dali, die mit Recherchen zur Wirkung von traumatischer Ereignisse auf die DNA von Alexander Tarakhovsky kombiniert sind. Aber dies sind seltene Momente, lieber weist die Kuratorin einzelnen Künstler ganze Räume, Werkhallen oder eben Pavillons zu. Durch den Verzicht auf Leitthemen und die gleichzeitige Vagheit ihrer Aussagen, gibt sie keine Linie vor, sondern eröffnet verschiedene Zugangsmöglichkeiten und Perspektiven. Das ist angenehm – wenn man diese Vielgestaltigkeit nicht als Leere, sondern als bereichernde Anregung annehmen kann. Der Kritiker Gruner konnte das scheinbar nicht, stattdessen zieht er das Pauschalargument der Eventisierung. Aber wo, wenn nicht in einem Format wie der Documenta, ist es möglich, die Kunstpraxis in ihrer vollen Breite zu zeigen und ihre vielfältigen Themen offenzulegen? Ich jedenfalls beneide die Dauerkartenbesitzer, die die 100 Tage auch angemessen würdigen können.