HAMBURGSANTIAGO SIERRA: SKULPTUR, FOTOGRAFIE, FILM
Antagonismen im Rückspiegel
20. Dezember 2013 von Esra Yilmaz
Man könnte meinen, die Kunstsammlung von Harald Falckenberg sei der ideale Ort für einen wie Santiago Sierra. Einen, der die Lautstärke seiner Kritik am Kapitalismus gerade daraus gewinnen will, dass er sich tief innerhalb der angeprangerten Strukturen bewegt und sie perpetuierend auf die Spitze treibt. In den Hallen des Sammlers muss der Feind nicht erst behauptet werden, sondern wird frei Haus mitgeliefert. Glaubt man aber, dass gerade in diesem vermeintlich antagonistischen Verhältnis sowohl das kritische Potenzial Sierras als auch die Risikobereitschaft Falckenbergs liegt, fällt man einem Vorurteil anheim.
Die von Dirk Luckow kuratierte Retrospektive vermittelt Sierras künstlerische Wurzeln aus der Minimal Art. Es wird klar Position bezogen: Sierra habe die Minimal Art „verflüssigt“, ihren kühlen Ästhetizismus durch eine politische Agenda ersetzt. Dass sich Sierra zwei ihrer offenkundigsten Merkmale zu eigen macht, lässt sich tatsächlich schnell feststellen: formale Reduktion ist beinahe omnipräsent, und auch das Konzept der specific objects (d.i. mehr oder weniger eine Form-Inhalt-Tautologie) findet sich hier und da wieder. Auf Letzteres baut etwa eine Halskette aus diamantenbesetzten Buchstaben, zusammengesetzt zum kurzen Satz „Diamond traffic kills“. Das hat mit dem Programm der Minimal Art natürlich wenig zu tun, vertraut aber im Prinzip auf denselben What-you-see-is-what-you-get-Effekt, den ein Teil der historischen Minimalisten vertrat.
Die Kette ist ein Luxusobjekt, das den materiellen Reichtum der Profiteure globaler Asymmetrien mitsamt ihrer tödlichen Folgen ins Visier nehmen will, indem es den Zynismus der Situation hervorkehrt, reproduziert, ihn damit gegen sich selbst wendet und zugleich die eigene Teilhabe am angeprangerten Ausbeutungsverhältnis signalisiert: als Betriebskünstler steht auch Sierra auf der Gewinnerseite. Auf diesen letzten Punkt legt Sierra immer Wert und tut gut daran, denn Blindheit für die eigenen Abhängigkeiten führt in der Regel ins Verhängnis. So hebt er sich – auf den ersten Blick zumindest – von dem leider nicht kleinen Teil engagierter Kunst ab, der für sich selbst den Anspruch einer autonomen Bewertungsinstanz erhebt.
Die Rückversicherung ist also abgeschlossen, aber wie geht's weiter? Gerne heißt es, Sierras Leistung bestünde darin, die Wirklichkeit in den Ausstellungsraum zu holen. Abgesehen davon, dass das ein ziemlich einfacher Trick ist – das Gegenteil wäre ungleich bemerkenswerter –, ist es nicht besonders viel Wirklichkeit, die Einzug nimmt: im Fall von „Diamond Traffic Kills“ wird an tatsächlicher Aufklärungsarbeit nichts geleistet, keine Neubewertung vorgenommen, kein Zusammenhang hergestellt, der nicht schon bekannt gewesen wäre. Trotzdem will sich das ausdrücklich als Kritik verstehen. Was ankommt, ist eine sich immer wieder selbst spiegelnde Behauptung: „Diamond Traffic Kills“ sagt „diamond traffic kills“. Wenig überraschend erledigt das Konzept der specific objects hier genau das, wofür es von den Minimalisten erfunden wurde: dem Kunstwerk wird es unmöglich, über sich selbst hinauszuweisen.
Es gibt in dieser Ausstellung viele solcher Gesten, die mit voller Absicht simpel und greifbar sind, und im Gegenzug umso mehr Schlagfertigkeit versprechen. Eine Videoarbeit etwa, in der die einzelnen Buchstaben des Wortes „Kapitalismus“ an über die Welt verteilten Schauplätzen handgreiflich zerstört werden. Oder die Fotografie eines Mannes, der vor einem LKW steht und ihn so an der Weiterfahrt hindert. Es sind sprechende Bilder in dem Sinn, dass sie im Modus der Buchstäblichkeit operieren. Reduziert auf jeweils ein zentrales „Nein“ funktionieren sie als Symbole für fundamentalen Widerstand. Wenn das die Kondensate der versprochenen Verflüssigungsstrategie sein sollen, dann drängt sich der Verdacht einer Masche auf, hinter der sich nicht viel mehr als schlichte Plakativität verbirgt.
Nun sind sowohl Plakativität als auch knallhartes Dagegensein Qualitäten, für die Sierra innerhalb eines bestimmten Diskurses sehr geschätzt wurde. Als Vorzeigewerk galt seine Arbeit „250 cm Line Tatooed on six Paid People“ (1999), bei der er unterbezahlten Drogenabhängigen eine dünne Linie auf den Rücken tatowieren ließ und so vehement und auf einer Kompatibilität von künstlerischer und politischer Handlung beharrte. Ob Kritik und Kunst überhaupt noch schmerzfrei zusammengehen, war ja schwer in Zweifel geraten; mit Sierra meinte man den naiven Glauben an eine Relationale Ästhetik, das heißt an Intersubjektivität als Heilmittel gegen gesellschaftliche Entfremdung, entlarven zu können als „pseudokritische Dauerparty der Einverstandenen“ (Tom Holert) – siehe etwa Claire Bishop in der Antagonismus-Debatte der Zeitschrift October 2004. Dafür war das plakativ-Antagonistische, das der minimalistischen Linie am Rücken der sechs Personen innewohnt, ein wichtiger Anhaltspunkt.
Aber: Wenn etwa Jacques Rancière den Dissens als zentrales Moment politischer Handlungen betont, geschieht das nicht ohne die Einsicht, dass man durch die Artikulation von Unmut allein noch nicht viel gewonnen hat. Der bestehenden Ordnung müsse erst eine Neuordnung entgegen gesetzt werden, um sich wirklich auf das Terrain des Politischen zu begeben. Auf Sierra bezogen hieße das: Wir sollten nicht fotografieren, wie wir uns einem LKW in den Weg stellen, sondern viel eher das ins Bild rücken, was wir anstelle des LKW über den Asphalt rollen lassen wollen.
Dem Widerstand das eigene Gesicht zu leihen, ist heute leicht geworden. Durch Plattformen wie change.org hat sich der Widerstand gewissermaßen selbst institutionalisiert – mindestens im gleichen Maß, wie er institutionalisiert wurde –, bis er sich von der allgemeinen sozialen Praxis, die ja zu einem nicht unbeträchtlichen Teil im Kommunizieren verschiedener Variationen von „gefällt mir“ und „gefällt mir nicht“ besteht, kaum mehr unterscheidet. Wenn diese Institutionalisierung des Widerstands zum Zweck seiner Entschärfung noch in gesteigertem Maß auf die Kunst zutrifft – und Kunst ist vielleicht das Mittel schlechthin geworden, um wahren Dissens vom politischen Parkett fernzuhalten – dann muss von ihr ganz besonders verlangt werden dürfen, was generell gilt: eine Handlung ist erst dann politisch, wenn sie Bestimmungen vornimmt, die hinter dem Dissens liegen. Genau in diesem Sinn greifen Sierras Arbeiten zu kurz.
In der umfangreichen Retrospektive der Sammlung der Falckenberg wird außerdem mehr als deutlich, dass er auf die Wiederholung der bisher beschriebenen Strategie angewiesen ist. Er transponiert die Strategie von einem Kontext auf den nächsten, was sie nicht gerade sensibel für das jeweilige Problem erscheinen lässt. Die Strategie wird zur Methode und produziert mit stabiler Verlässlichkeit Aufreger über Aufreger. Das einzige, was variiert, sind das minimalistische Symbol und die Ethnie der Ausgebeuteten. Osteuropäische Prostituierte in Sexstellungen, die mit Polyurethan besprüht werden; ein Feld mit 3000 ausgehobenen Gräbern an der Straße von Gibraltar; eine Luftaufnahme von dem an der nordamerikanisch-mexikanischen Grenze in den Sand geschriebenen Wort „sumisión“ (dt. Unterwerfung), etc. etc. Was bleibt einem da noch anderes übrig, als bitter die eigene Schuld abzunicken? Danke Sierra für's Augenöffnen, danke Falckenberg für's Engagement. Und was tue ich? Wo ist die Spendenbox?
Die Wiederholung wird getragen von Fotografien, die in dokumentarisches Schwarz-Weiß gekleidet den Eindruck schmerzhafter Wahrhaftigkeit erwecken. Anders als bei den (heute selten gewordenen) Plakaten von Hilfsorganisationen, die mit dem niedlich-leidenden Ausdruck großer Kinderaugen Spender ködern wollen, geht es hier schließlich um Objektivität. Der Verzicht auf die Darstellung von Einzelschicksalen könnte ein zweites gezieltes Mittel sein, mit dem Sierra gefühlige Kulleräugigkeit unterbinden will. Dass es sich bei solcher Journalistenrethorik aber genauso um eine leere Pathosformel handelt wie bei den alten Tränendrüsennarrativen, deren Hauptaufgabe es ist, von der Substanzlosigkeit der Auseinandersetzung abzulenken, vermag die Ausstellung nicht lange zu verschleiern. Es bleibt nämlich bei der bildhaften Revue tragischer Verhältnisse. Ein reduktionistisches Kabinett der unfairen Weltordnung – hier die Ausgebeuteten, dort die Heimatlosen, eklektisch zusammengewürfelt und provokant verpackt.
Im Kontrast zur großteils vermiedenen Emotionalität setzt die Ausstellung stellenweise auf direkte Affizierung. Besucherinnen und Besucher können sich zum Beispiel in eine fensterlose Zelle einschließen lassen, ohne zu wissen, wie lange sie dort ausharren müssen (maximal vier Stunden, heißt es). Offenbar geht es um fremdbestimmte, vielleicht illegitime Haft. Klar ist aber, dass auch vier Stunden in Hamburg-Harburg kein Guantanamo-Surrogat leisten können, solange sich Haus, Hof und sozialer Status des Eingeschlossenen nicht plötzlich in Luft auflösen. Allen Ernstes wird eine bewusstseinserzeugende Kraft erwartet, wo nichts anderes passiert, als bestehendes Bewusstsein abzusegnen – die Vergewisserung der eigenen kritischen Aufgeklärtheit. Effekt: Legitimierung. Das ist Politkitsch erster Güte.
Dass mit Harald Falckenberg ausgerechnet ein Paradekapitalist den Gastgeber spielt (der Kauf eines Patents für Zapfsäulenventile machte ihn reich – das passt sogar noch in antiquierteste marxistische Kategorien), könnte einer kritischen Strategie eigentlich besonderen Auftrieb verleihen. Der Bau des Patriarchen wäre Sierras Biotop, sofern er dort jene Fronten fände, zwischen denen sich sein Antagonismus voll entfalten lässt: Kunst als kritisches Refugium – und zugleich als Ehrengast beim Bankett der Hohen Gesellschaft. Weil er aber keinen Schritt über die bloße Behauptung von Antagonismen hinaus wagt, zeigt sich am Ende, dass die Rollen von Wirt und Parasit genau umgekehrt verteilt sind.
Normalsterbliche dürfen die Ausstellungen bei Falckenberg ausschließlich in geführten Gruppen besuchen. Das bedeutet nicht nur bei umfangreichen Ausstellungen wie dieser starke Einschränkungen: Richtung, Auswahl, Tempo und Dauer werden vorgeschrieben, die Rezeptionshaltung gleich mitgeliefert. Jede Führung beginnt mit einer Lobeshymne auf den Hausherrn, den sammelwütigen Wohltäter, der so gar nicht in das Bild vom kunstsinnigen Oligarchen á la Pinault und Pinchuk passen will. Denn seine Sammlung, heißt es, sei unkonventionell, spröde, frech und vor allem eins: politisch. Was passiert nun, wenn der Kapitalist den Kapitalismuskritiker an seinen Hof einlädt, weil er ihn als Beleg seiner Tugend braucht? Sierras methodischer Zynismus kann sich trotz aller Scharfzüngigkeit nicht dagegen wehren, dem größeren Zyniker letztendlich als Feigenblatt zu dienen. Davor rettet ihn auch keine Ausrede auf die normative Kraft des Faktischen eines ja eh schon immer korrumpierten Systems.
Am Ende gibt es dann auch für uns keine Ausreden mehr: Die optimistische Kusthistorikerin, die durch die Ausstellung führt, erklärt uns nämlich noch alle zu Komplizen. Aus der Verbreitung von Falckenbergs Zapfsäulenventil schlussfolgert sie: „... und jedes Mal, wenn wir tanken, fließt ein bisschen was in die Kunst.“
Kommentare
Tolle Rezension, danke! Aber trifft "die Vergewisserung der eigenen kritischen Aufgeklärtheit. Effekt: Legitimierung. Das ist Politkitsch erster Güte" nicht allgemein auf so 97% dessen zu, was derzeit als "politische" Kunst kursiert und mit Auszeichnungen behängt wird? Wie oben ja schon angemerkt, es geht ja auch weitaus schlimmer. Geht es auch besser, anders? Und wie genau ginge es anders und gibt es denn keine Utopien mehr außer lächerlichen tollpatschigen absurden, die den Zynismus gleich mit eingebaut haben? Was mir an solchen Revolutionsgenies so aufstößt, ist ja auch, dass sie gerade keine gar kollektiven Handlungen erzeugen oder ihre Kunst wirklich in die Welt pusten zu denen, die es anginge, nein, Herr Superschlau und Wirklichsauer diktiert ganz klassisch seine "Werke", die seine Kunden und Konsumenten bei Falckenberg betroffen auf sich wirken lassen, und das wars. Ich bin ja überhaupt kein Freund von partizipativem Theater und Mitmachkunst und sowas, aber bei dem herrn könnte man es glatt werden. Wie hat der Herr Serra sich das denn vorgestellt, sollen jetzt die Managergattinnen und Sammlersöhne zur Revolution aufrufen, den generalstreik in die Wege leiten, aus der Lounge des Hotel Atlantik vielleicht? Außerdem, wo bleibt denn da der Humor? Das ist doch immer nur so ein bitteres Kabarettistenlachen, das einem dann im Halse stecken bleiben soll, etcpp.