Nicht erst seit dem von Rancière wiederbelebten Streit um die ‚Relationale Ästhetik’ ist die Partizipation des Kunstbetrachters wieder Gegenstand hitziger Debatten. Bereits 2010 lieferten diverse Großausstellungen Futter: Tino Seghal im Guggenheim, Marina Abramović im MoMA – auch die Bierpyramide von Cyprien Gaillard in den Berliner KunstWerken (KW) erntet derzeit ein bemerkenswertes Medienecho. Für Bildredakteure war das Angebot von catchy Vorher-Nachher-Bildern nur zu verlockend, und ein Leichtes war es für Feuilletonisten, über Bier trinkende Besucher zu sinnieren, deren Konsum das Kunstwerk langsam auseinanderbröseln ließ. Ein Kunstwerk, das sich durch seine Benutzung selbst zerstört.
Die soziokulturelle Lesart gab es mit freundlicher Empfehlung der Pressemitteilung schon vorab, also vor der eigentlichen Fusion von Besuchern und Kunstwerk. Gaillard, heißt es da, „untersucht in seinen Arbeiten immer wieder die absurden Aspekte dystopischer Architekturen und verbleibender Ruinen“. Als Triggerwort stellte die ‚Ruine’ hier bereits den Topos, mit dem das Bild einer zerfallenen Pyramide nun munter durch Architektur- und Archäologiegeschichte gereicht werden durfte. Neben der Pyramidenform musste als einziges klassisch werkimmanentes Indiz für diese Deutungsrichtung genügen, dass der Name der türkischen Brauerei „Efes“ auf das antike Ephesos zurückgeht. Ob angelegt oder nicht, als Metapher für den eventfixierten Kunstbetrieb taugte das halbleer getrunkene Kunstwerk freilich auch.
Zur Erinnerung: der französische Künstler Cyprien Gaillard ordert für seine Einzelausstellung „The Recovery of Discovery“ 72.000 Bierflaschen Marke „Efes“ aus der Türkei und schichtet die Verpackungskartons in der Mitte des Raumes zu einer imposanten blauen Pyramide. Den Besuchern stellt er anschließend frei diese zu „nutzen“, was man zumindest dem Vernissagenpublikum nicht zweimal sagen musste, wie zahlreiche Mitschnitte auf Videoportalen belegen. Alles ganz im Sinne der Prophezeiung: „Durch die Nutzung – das Erklimmen der Skulptur wie das Trinken des Bieres – wird zugleich die Zerstörung des Monuments eingeleitet.“ (Pressetext) Von einem weiteren Aspekt der institutionellen Vorhersage zeugen die Videoschnipsel, nämlich der „öffentlichen Amnesie in der aktiven Missachtung der skulpturalen Form“ und „der ausweglosen Interaktion mit dem Monument […]“ (ebd.)
Franz Erhard Walther, einer der Pioniere der partizipativen Kunst der sechziger Jahre, zeigte sich alsbald schon enttäuscht darüber, wie wenig Originalität die ‚Benutzer’ seiner Objekte an den Tag legten. Die Allermeisten nämlich hielten sich demütig an die ausdrücklich als Vorschläge verstandenen Handlungsbeispiele und machten von der neu gewonnen Freiheit keinen rechten Gebrauch. Walther erklärte sich das damit, dass in den Reihen der Teilnehmer „Phantasie, Imaginationskraft, Urteilskraft, Improvisationsgabe […] nur noch sehr verkümmert vorhanden […]“ seien. (vgl. W. Ullrich „Gesucht: Kunst!“) Würde man Gaillard wiederum auf die mangelnde „Improvisationsgabe“ im Umgang mit der von ihm gestellten Ausgangssituation ansprechen, müsste er sich eigentlich zufrieden zeigen. Zumindest, wenn man der Argumentation von KW-Chefin Gabrielle Horn folgt, die am 3. Mai fünf Besucherinnen des Hauses verwies, die, anstatt sich der vollen Bierflaschen zu bedienen, lieber leere sammelten, Scherben zusammenfegten und die zerrissenen Pappkartons auf einen gesonderten Haufen warfen – kurz: Besucher, die damit begonnen hatten, aufzuräumen.
Das so in Unruhe versetzte KW-Personal fühlte sich bereits in der ersten Stunde aufgefordert, die fünf Besucher über die Grenzen ihrer Interaktion mit dem Kunstwerk zu unterrichten. Man habe selbstverständlich auch Anderen schon untersagt, beispielsweise geometrische Figuren mit den Kisten zu bilden, die dem Grundcharakter der Arbeit widersprächen. Und überhaupt: am Aufräumen könne man sich doch auch nach Ausstellungsende noch beteiligen. Nach einigem argumentativen Hin und Her wurde den Zu-Früh-Gekommenen schließlich erklärt, dass man sie, in telefonischer Rücksprache mit dem Künstler, vorerst gewähren ließe. Nach guten drei Stunden des Sortierens, Umschichtens und Aufräumens aber war die Toleranzgrenze der wachenden Institution erreicht. Man warb noch um Verständnis, schließlich müssten die KW-Angestellten das zerstörte Bild der Zerstörung nun aufwendig wiederherstellen, machte ob der harrenden Unbelehrbarkeit aber nun von seinem Hausrecht Gebrauch: Man verwies die Besucher der Ausstellung. Wenn man es vom Künstler selbst hören wolle, solle man ein weiteres Ferngespräch nach Damaskus, wo dieser sich derzeit aufhielte, selbst bezahlen, außerdem habe man lang genug mit ihm gearbeitet, um ihren Aufenthalt im KW nun in seinem Sinne abzubrechen.
Nun könnte man meinen, Rezipienten oder vielmehr Partizipienten, in denen die vorgefundene Partywüste einen Sinn nach Ordnung weckt, die die Trümmer auflesen und die Monumentruine mit dem Prinzip der Mülltrennung konfrontieren, wären ein Gewinn für jedes Auslegen dieses werdenden Werks. Ganz gleich wie man die Arbeit liest, ob als modellhafte Aneignung von Kulturdenkmälern, als trinkseelige Selbstdemontage des Kunstbetriebs, ja selbst wenn man eine Pyramide aus Bierkisten für eine relativ triviale Angelegenheit hält. „Die Spannbreite der Aneignungen spiegelt die jeweilige Haltung gegenüber der Archäologie und der Idee von Entdeckung in den unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten und politischen Systemen wider“, heißt es auf der Webseite des KW. Den finalen Platzverweis der Direktorin mag man insofern widersprüchlich, ja abwegig finden. Womöglich ist er jedoch vielmehr eine auf der Höhe ihrer Zeit liegende – einem ‚Institute for Contemporary Art’ also absolut angemessene – ästhetische Konsequenz. Denn kaum etwas reflektiert die gegenwärtige ‚Spannbreite’ möglicher Aneignungen besser.
Der beteiligte ist nicht gleich der emanzipierte Betrachter, wie der Seufzer Franz Erhard Walthers und die berechenbare Verwüstung im KW belegen. Der Rauswurf ergänzt: Selbst wenn er wollte, er könnte es auch gar nicht sein. Wenn dem Besucher suggeriert wird, er sei frei, in einen aktiven Dialog mit dem Kunstwerk zu treten, tatsächlich aber ein eng begrenzter, unausgesprochener Masterplan besteht, welche Formen dieser Dialog annehmen darf, kann man diese Haltung gegenüber dem Rezipienten wohl einigermaßen zynisch nennen. Man wird bezweifeln, ob diese Haltung wirklich im Sinne des Künstlers ist. Ebenso lässt sich bezweifeln, ob sie überhaut noch Teil seines Befugnisrahmens ist. Denn mehr noch als ein Zeichen der Emanzipation des Betrachters, ist die gegenwärtige Mode partizipativer Kunst Ausdruck einer Selbstermächtigung des Kurators. Gemäß seiner Deutung wird das Haus bestellt. Und neben einer schwachen Kritik und einfallslosem Publikum, sind es auch Künstlerinnen und Künstler, deren Haltung demgegenüber zunehmend devot erscheinen.
Der Handlungsspielraum der Ausstellungsbesucher von „The Recovery of Discovery“ ist sichtbar eingeschränkt und reduziert sich im Grunde auf die Wahl zwischen Passivität und der Rolle alkoholisierter Barbaren. Dass er dadurch, in der hauseigenen Lesart, auch noch Teil einer hehren Reflektion, also einer so verstandenen ‚Dekonstruktion’ imperialer Inanspruchnahme von Kulturdenkmälern und antiken Zivilisationsruinen werden soll, ist eine weitere Perfidie dieser Ausstellung. Aber auch sie spiegelt letztlich nur eine Gegenwart, in der die Subversion von Herrschaftsbildern längst ebenso Programmpunkt von PR und Propaganda ist, wie deren Aufbau. Jüngst zu beobachten etwa in der modellhaften Reaktion auf die fünf von der CIA veröffentlichten tonlosen Videoaufnahmen Osama Bin Ladens, bei der etliche Medien sich wie bestellt an die lancierte entmystifizierende Interpretation hielten: Bin Laden färbte seinen Bart und verfolgte Berichte über sich im Fernsehen in gebückter Haltung – er war also eitel, selbstsüchtig und insgesamt in ärmlicher Verfassung. Die Strategie lancierter Subversion wäre wohl auch bei der vor ein paar Tagen aufgedeckten Kampagne von Facebook gegen Mitkonkurrent Google aufgegangen, hätte einer der beanspruchten Blogger die edle Absicht der an ihn herangetragenen Informationen nicht bezweifelt und ihrer statt einfach die Email der anfragenden PR-Agentur geposted.
Vielleicht wäre man generell ganz gut beraten, vorgegebenen Interpretationslinien, versprochenen Handlungsräumen und Bewusstseinserweiterungen auch mal mit Argwohn zu begegnen. Es könnte ja sein, dass der ein oder andere Informationsstratege in Wahrheit genau das am meisten fürchtet, was er sich als Anliegen auf die Fahne schreibt – ob unabhängige Berichterstattung, Datensicherheit oder die Partizipation von eigenständigen Rezipienten.
Kommentare
Man weiß nicht recht, ob man das lustig oder traurig finden soll. Auf jeden Fall spricht es Bände!
Wenn es euch nicht gelingt, die künstlerische Praxis von der harten Realität zu trennen, wenn ihr den Sinn von induktivem Vorgehen nicht versteht, wenn ihr nicht seht, dass die im Werk immanente Partizipation innerhalb einer Institution stattfindet, wo Verantwortung getragen werden muss, wenn ihr tatsächlich Mitarbeiter mit dem Konzept des Künstlers gleichsetzt, wenn euch nichts anderes einfällt, als euch an bereits Bestehendem zu bedienen, dann seid ihr der Kritik nicht würdig, die nämlich voraussetzt, sich zuerst selbst zu kritisieren. Freies Denken funktioniert nur im Verhältnis zu Strukturen, wenn ihr denkt, ein Außerhalb wäre noch möglich, dann habt ihr das Wesentliche nicht verstanden!
...hä?
ich finde es nach wie vor recht unterhaltsam, wie des Kaiser Kleider den selbstlosen (und noch lustiger: auch dankbaren) Laboratten von Besuchern vorgehalten und wieder weggenommen werden. Das mal zu benennen scheint mehr als geboten und der Artikel hat das aus meiner bescheidenen Perspektive geleistet... ich wäre für eine nähere Erleuterung der institutionellen, induktiven und konzeptionellen Qualitäten des angesprochenen Kunstwerkes recht dankbar.
vg singer
@Rrose
Ich denke das Missverständnis ist, dass der Kontext in dem diese Ausstellung stattfindet eben genau diese Institution ist, mit ihren Mitarbeitern und ihrer "Verantwortung". Was der Arbeit angelastet wird, ist der Versuch ortsspezifisch und partizipatorisch zu sein, dabei jedoch die tatsächliche vorhandene Struktur nicht einzubeziehen. Genaugenommen trifft der Vorwurf "nicht im Verhältnis zu Strukturen zu funktionieren, außerhalb arbeiten zu wollen" eher die Ausstellung, nicht die Kritik.
Gute ortspezifische, partizipatorische Kunst behandelt die "harte" Realität, da gibt es nichts zu trennen.
Postdemokratie?