„Speculations on Anonymous Materials“ stand bereits im Vorfeld für die Behauptung, hier sei eine neue Generation am Zug. Ende Februar wurde auch die Verlängerung der Ausstellung im Kasseler Fridericianum abgepfiffen. Durch den Flurfunk des Betriebs geisterte sie da längst als Eröffnungsspiel eines neuen Diskurses, oder besser: als strategische Zusammenführung diverser seit Jahren schwelender Tendenzen. Neuer Materialismus, Spekulativer Realismus und Post-Internet schossen im Ranking der Google-Suchanfragen nach oben. Jetzt bloß nichts verpassen!
Also trafen sich in Kassel viele Akteure aus Frankfurt, Rheinland, Berlin und Hamburg auf der Suche nach Gegenwart. Zur Halbzeit lud Kuratorin Susanne Pfeffer Künstler und Philosophen zum Workshop mit Symposium, in der Hoffnung, ihre Stichwortliste, die sie als lose Hashtags in die Runde geworfen hatte, würden dort zu ganzen Sätzen kombiniert. Aufgeregtes Diskurs-Scrabble auch bei jenen Galerien, die die Vorrundenspiele ausgetragen hatten: 47 Canal in New York, Tanya Leighton und Kraupa-Tuskany Zeidler in Berlin. Letztere baten parallel zum Symposium und schoben den #accelerationism als zusätzliche Rezeptionsoption hinterher. Sicher ist sicher.
Für die wachsende Unruhe, in die er den Betrieb über Wochen versetzte, sollte man den Organisatoren dieses strategischen Coups dankbar sein. Wie selten wurde die Kunst der Gegenwart wieder auf jene hin befragt: Was sind denn nun die Fragen der Zeit? Und mit welchen Ansätzen begegnet ihr die Kunst? Die Betriebstemperatur um die Ausstellung im Fridericianum war so gut wie lange nicht – umso größer die Enttäuschung über deren mageres Angebot. Denn was sich mit ihr über die drei Geschosse des Fridericianums verteilte, erzählte mehr über die Probleme der Kunst der letzten zwanzig Jahre, als es die der Gegenwart ins Licht rückte.
Es ist der Kuratorin nicht grundsätzlich anzukreiden, dass ihr am Beginn der Auseinandersetzung noch die passenden Thesen Spekulationen fehlten. Schließlich hatte sie „Speculations on Anonymous Materials“ ausdrücklich als Versuch über das Neue bzw. die Neuen angelegt. Auf Arbeiten von älteren Künstlern wie Hito Steyerl, die sich mit Themen und Medienwahl hervorragend in das Spektrum der jüngeren Positionen eingefügt hätten, wurde bewusst verzichtet. Eine Generationenschau sollte es sein. Darauf, was die jungen Positionen aber letztlich und eigentlich verbindet, wollte Pfeffer sich nicht festlegen lassen. Irgendwas mit Internet. Ihr kurzer einleitender Text im Ausstellungsbegleiter geriet entsprechend schwammig und bediente mit der „Relation von Bild und Sprache“, „Bildrepräsentation“ und „inkohärenten Narrativen“ eher altbekannte Rezeptionstopoi. Auch der Katalog zur Ausstellung lässt noch auf sich warten und zum Inhalt hält man sich bedeckt. Nur dass viele Künstler selbst zu Wort kommen sollen, lies Pfeffer kürzlich verlauten. Wenn dem so ist, dürfte es allerdings nochmal spannend werden. Denn die Enttäuschung der Ausstellung ist weniger Resultat ihrer inhaltlichen Diversität oder der fehlenden Ansagen von kuratorischer Seite. Es waren die präsentierten Positionen selbst, ihre mangelnde inhaltliche Dichte, der fehlende formale Anspruch auf Gegenwart, der jede Bereitschaft zu neuen Fragestellungen mit einer – gemessen an der Suggestion des Neuen – erstaunlichen ästhetischen Routine zunichte machte.
Gleich zu Beginn der Ausstellung erinnerten Pamela Rosenkranz' hautfarbene Acrylflächen auf Spandex und Yngve Holens nach Fleischstücken gefräste Marmorblöcke auf Bühnenelementen an schnöde Remixe durchgenudelter Diskursklassiker, Abteilung Skulptur und Malerei. Doch auch wenn es den Beiden hier wohl nicht um die x-te postmoderne Variation von Sockel und Leinwand ging, ließen sich die zugrunde liegenden Strategien mit jedem beliebigen Bestimmungsbogen aus den letzten zwei Jahrzehnten Rezeptionsgeschichte decodieren. Bei Holens Marmorblöcken wirkte allein schon das Moment der ästhetischen Transformation reichlich überstrapaziert (sieht aus wie Fleisch, ist aber Marmor, der aber wiederum bearbeitet von einer digital gesteuerten Fräse – oho!). Noch ärgerlicher war die Fülle intendierter Bedeutungen, mit denen der Künstler sein Material belegt hatte. Nicht zu sehen freilich, aber nachzulesen im Ausstellungsbegleiter: Der blaue Teppich auf den Bühnenelementen käme in der Luftfahrtindustrie zum Einsatz, „wo er als Bodenbelag für Flugzeuggänge […] fungiert.“ Die Fleischstücke sind natürlich nicht irgendwelche, sondern „basierend auf 3D-Scans von realen Fleischstücken aus einer Berliner Metzgerei“. Sie wurden auch nicht irgendwo gefräst, sondern in Verona. Die referenzielle Auflösung des Titels erspare ich uns an dieser Stelle – es sollte klar sein, worauf das Spiel hinausläuft: „Rococo-Conceptualism“ hat Jennifer Allen diesen überbordenden Umgang mit versteckten Referenzen und Bedeutungen im vergangenen Jahr getauft. Das Phänomen aber ist älter und hat weniger mit der Gegenwart zu tun, als mit jenem routinierten Modding of Meaning, mit dem Künstler ihren Arbeiten eine intellektuelle Schwere anlasten, die deren Ästhetik nicht im Ansatz aufwiegt.
Das Vorgehen ist bekannt und hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Gegenwartskunst derzeit einer wachsenden Skepsis gegenübersieht. Gut so. Die meisten Arbeiten in Kassel aber wirkten, als sei nach Neunziger-Jahre-Kontext-Kunst und Nuller-Jahre-Erlebnis-Environments nicht auch der Karren des Postkonzeptualismus (dessen späte Spielart der Rococo-Conceptualism ist) vor die Wand gefahren. Er ist es längst, und ein seichtes Arrangement aus „interessanten“ Alltagsmaterialien, mit ein paar nachzulesenden Referenzen in den Fußnoten macht 2014 kein Problem mehr. Darin trifft sich das Gros der Arbeiten im Fridericianum: Sie haben kein Problem und sie machen auch keins. Sie widersprechen weder dem gegenwärtigen Zeitgeist, noch den ästhetischen Modi der letzten zwanzig Jahre. Wenn es nun aber einfach so weitergehen soll, braucht es dafür keine neue Generation. Schließlich arbeitet auch Tobias Rehberger, Jahrgang 1966, seit Jahren mit digital vorproduzierten Entwürfen, oft mit wesentlich beeindruckenderen Ergebnissen. Richtig, die Gegenwartskunst braucht ein Update, dringend, aber das Bugfix kann nicht nur darin bestehen, neue Materialien in überholte, weil fragwürdig gewordene Arbeitsmodi einzuflechten.
Genau das aber tun die meisten Arbeiten der Ausstellung und man muss zugeben, dass viele dabei ein feines Gespür für die Mythen und Fetische unserer Zeit beweisen. So wenn Yngve Holen eine Reihe von Nike-Air-Max-Schuhen mit Fahrradschlössern pierct oder gleich daneben Josh Kline Volvic-Flaschen in ihrem eigenen Inhalt kocht und die deformierten Artefakte dann auf einen an Warendisplays erinnernden Sockel präsentiert. In mancher Hinsicht kristallisiert sich so tatsächlich etwas von der materiellen Landschaft, die uns umgibt. In dieser ersten ästehtischen Annäherung ist die Ausstellung also durchaus überzeugend: Energy- und Vitamin-Drinks, Yoga-Matten, Duschgel, Smartphones – die Zutaten vieler Installationen bedienen sich geschickt aus dem Warensortiment des gegenwärtigen Hipster-Lifestyles in Berlin oder New York, wo die meisten beteiligten Künstler leben und arbeiten. Auch wenn damit in erster Linie wohl das privilegierte Umfeld der oberen urbanen Mittelklasse abgerufen wird, läge eine große Chance darin, hier nach Möglichkeiten einer kritischen Gegenrede zu suchen. Sofern überhaupt beabsichtigt, erschöpfte sich diese bei einem Teil der Arbeiten aber in einfachen Gesten. Timur Si-Qins erdolchte Axe-Flaschen und gegrillte Yoga-Matten („Axe Effect“ und „Melted Yoga-Mat“, beide 2013) reihen sich nur zu gut in jene ästhetische Pseudo-Opposition, wie sie das Marketing „cooler“ Marken wie eben Axe oder Adidas selbst schon reklamiert. So schmückt zum Beispiel der neue Adidas-Store im Hamburger Schanzenviertel (fünf Häuser neben der Roten Flora) seine Fassade mit einem frechen Graffiti in der Ästhetik von Straßenkampf und Farbbeutelattacke. Auch dieses Phänomen ökonomischer Okkupation politischer Anti-Gesten ist keineswegs neu, umso frustrierender, wenn eine weitere Generation sich anschickt, das Spiel damit zu verlieren.
Sowieso dagegen: Adidas-Effect in der Schanze (Foto: Urbanshit)
Selbst dort, wo der Umgang mit den schillernden Objekten und Oberflächen aktueller Produkt- und Bilderwelten nicht auf einfache Gesten zuläuft, erweist er sich für die Künstler als ein kaum zu gewinnendes Spiel im Teufelskreis der Codes of Cool. Noch so ein Arbeitsmodus, der bereits im Postkonzeptualismus ins Leere lief: Man beginnt seine Auseinandersetzung mit dem Interesse an einer bestimmten Materialität, einer irgendwie „perversen“ Produktästhetik, gerne aus dem grellen Sortiment der unteren Gesellschaftsschichten, das dem gewöhnlichen Kunstpublikum schon als solches fremd ist. Das wäre bis hierhin noch nicht bedenklich, wird es aber, wenn die sichtbare Auseinandersetzung ebenda stehenbleibt und die Kunstwerdung allein in der kreativen Transformation und der mit dem Museumsraum verbundenen Neukontextualisierung dieses Materials besteht. Ein verpackter Flatscreen allein ist als ästhetische Behauptung schlicht und ergreifend unterkomplex.
Das er auch darüber hinaus nichts Zwingendes hat, ist Folge eines grundlegenden Denkfehlers im Postkonzeptualismus: Das Zwingende der Konzeptkunst erwächst nicht aus der Spröde ihrer Arrangements allein – es braucht die Radikalität der dahinterliegenden Behauptung. Der Postkonzeptualismus entlehnt nun seine trockene Ästhetik der Konzeptkunst – meist reicht es schon ein paar Alltagsgegenstände im Raum anzuordnen – und hofft einfach, die Bedeutung der Arbeit ergebe sich aus der Summe der Referenzen, die ihre Gegenstände im Beipackzettel führen. So ist der formale Minimalismus jedoch der Härte und Radikalität seiner eigentlichen ästhetischen Behauptungen beraubt. Für eine Weile fand man das selbst noch Bedeutung genug, schließlich war Postmoderne doch für viele gleichbedeutend mit der Entkopplung von Form und Ideologie. Heute ist aber auch das ein dermaßen alter Hut, dass es ziemlich schwach wäre, es als zentrale Bedeutung einer zeitgenössischen Arbeit gelten zu lassen. Vor allem in dem für diese Ausstellung in Anspruch genommenen Zusammenhang des Spekulativen Realismus, dessen Ansinnen es doch ist, im Nachgang der Postmoderne wieder zu ganzen Sätzen und Weltmodellen zu kommen – nun eben Spekulationen genannt.
Deshalb ist es schade, dass selbst Künstler, wie Ed Atkins – dem man zugute halten muss, dass er das von ihm beanspruchte, neue Material bzw. die von ihm genutzte Technik, die digitale 3D-Animation in HD-Qualität, wirklich in beeindruckender Weise beherrscht und verdichtet – auf der Ebene der Narration qua Asynchronität nur die bewährten postmodernen Erzählmuster reproduziert. Sein Video „Warm, Warm, Warm Spring Mouths“ gehörte dennoch zu den wenigen, wirklich lohnenden Arbeiten der Ausstellung. Bezeichnenderweise waren es allesamt Videoarbeiten: die von Oliver Laric nämlich, und zwei Kurzfilme von Jon Rafman. In Rafmans „Codes of Honor“ erzählt ein nostalgischer Protagonist innerhalb eines an Blade Runner erinnernden Second-Life-Kosmos von seiner Zeit als professioneller Arcade-Automatenspieler. In den Rückblenden wechseln gefilmte Interviewsequenzen mit Kampfszenen aus den ersten Street-Fighter-Spielen (achtziger Jahre) und pathetischen Momenten alter Kung-Fu-Filme (siebziger Jahre). Diese Form, auch ästhetisch durch die Zeiten zu wandern, in der eigentlichen Erzählung aber immer nachvollziehbar zu bleiben, wirkt weit weniger affektiert als bei Atkins und zeugt endlich auch von einem durch den Inhalt getrieben Umgang mit digitalen Darstellungsformen.
Getrieben vom Inhalt: Videostill aus Rafmans „Codes of Honor“ (Courtesy Future Gallery)
Auch Rafmans offenbar nachträglich und etwas verschämt auf der Rückseite einer Videobox installierter Musikfilm „Still Life (Betamale)“ überzeugte mit einer klugen Verdichtung von Form und Inhalt. Zwar kennt der Bann seiner Erzählung nur eine Entwicklung, nämlich die Richtung Abgrund, zersplittert innerhalb dessen aber zu einem eindringlichen motivischen Mosaik. Ein Sog existenzieller Vereinzelung im schwarzen Loch vernetzter Möglichkeiten. Letztlich war der Film jedoch die einzige Arbeit in der Ausstellung, die den ominösen „anonymous materials“ überhaupt Abgründe abzuringen versuchte. Die Gesamtatmosphäre war kalt nur im Sinne von cool – und nicht im Geringsten bedrohlich. Kaum eine Arbeit kratzte an den von ihnen zitierten Mythen digital bestimmter Lebenswelten. Das ist über zwanzig Jahre nach der Etablierung von New Economy und Digital Culture ziemlich erschreckend. Zumal für eine Ausstellung, die damit wirbt, erstmals in dieser Größenordnung eine neue Generation von Post-Internet-Künstlern zu präsentieren. „Post“, erklärte Jörg Heiser in seiner Rezension für die FAZ, „meint hier nicht danach, sondern längst Alltag“. Und mit längst Alltag wären dann wohl jene Smartphone-Deppen gemeint, die sich seit jeher nur für abgerundete Oberflächen interessieren und mit digitalen Geräten erst umgehen, seit deren Displays – designed for dummys – die dahinterliegenden Funktionen und Prozesse verschleiern. Dass die Ausstellung keinen Schritt hinter diese Verschleierung wagt, ist angesichts der aktuellen Diskurslage innerhalb der Digital Society bis zu populären Interneterklärern wie Evgeny Morozov oder Sascha Lobo („Das Internet ist kaputt!“) schwer zu fassen. In Kassel erscheint das digitale Universum noch immer als schillerndes #Neuland.
Fast wünscht man sich da die erste Generation von Internetkünstlern zurück, wie sie heute nur noch in wenigen Häusern wie dem ZKM in Karlsruhe oder dem Oldenburger Edith-Russ-Haus für Medienkunst ein Forum findet. Auch bei ihnen war das Internet – generationenbedingt – ein schillerndes Heilsversprechen, vor allem verknüpft mit der Hoffnung auf demokratischere Beteiligungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten. Im Ausstellungsraum entsprachen dem eine Fülle interaktiver Programme und auch die Überführung klassischer Rezeptionsformen in neuartige Ausstellungsparcours durch flirrende Pixelwelten und digitales Mitmachtheater. Doch die anfängliche Begeisterung wich bald einem allgemeinen Überdruss an digitaler Ästhetik, zumal sich die Reflexionstiefe vieler interaktiver Arbeiten oft in simplem Algorithmen erschöpfte (Wenn ich Taste A drücke, passiert das, bei Taste B passiert jenes usw.). Für Kassel aber wünschte man sich ein bisschen von der damaligen ästhetischen Unbedarftheit mit der die erste Generation sich noch ins Thema stürzte. Allerdings feierte sie im Gegensatz zu den Post-Internet-Künstlern auch kaum Erfolge auf dem Kunstmarkt. Das ist heute anders und verdankt sich in erster Linie den konkreten, meinetwegen anonymen Materialien bzw. den mit ihnen verbundenen klassischen Kunstformaten (Objekte, Einzelbilder), wie sie die Post-Internet-Künstler nun wieder aufs Parkett legen. Nach den zerplatzten Illusionen der frühen Internetkunst mit ihren virtuellen Alternativräumen ist dieser „Schritt zurück“ zu den Dingen nicht abwegig. Eigenartig ist allein, wie wenig reflektiert er im Einzelnen erscheint.
Im Fall von Rafman wirkten die drei Büsten, die er im Fridericianum seinen starken Filmen zur Seite stellte, wie unfertige Materialstudien (Autolack auf 3D-Polyamid-Druck). Wenn das einer der angekündigten Spekulationen über anonyme Materialien war, müsste man Anselm Reyle konsequenterweise zum ästhetischen Vordenker erklären. Gleiches gilt für die Skulpturen von Katja Novitskova, Aleksandra Domanović und die Bilder von Sachin Kaeley. Trashige Objekte mit grellen, synthetischen Lacken zu verfremden und so für den Rezipienten zu „anonymisieren“ ist schließlich keine sonderlich neue Strategie. Neu daran ist lediglich die Behauptung – Stichwort: Post-Internet – das hätte irgendwas mit den Strukturen des Internets oder der digitalen Konfiguration unseres Alltags zu tun. Auch wenn Tobias Madison auf seinem Arrangement derangierter Leselampen mit Filzstift anmerkt, seine Mutter folge ihm jetzt auf Instagram, ergibt das noch keine irgendwie neue Connection zum Internet. Nicht in ästhetisch zwingender Form.
Die andere von der Ausstellung intendierte Verbindung, die zum Spekulativen Realismus, der für sich genommen bereits eine reichlich kühne Zusammenfassung heterogener philosophischer Ansätze ist, firmierte unter dem Hashtag #entsubjektivierung. Sie sollte auf künstlerischer Ebene der erwähnten Hinwendung zu den Dingen folgen, denen in den Selbsterklärungen des Spekulativen Realismus schließlich eine eigene, von Subjekten und deren Wahrnehmungsradius unabhängige Wirklichkeit zugesprochen wird. Spekulativ könne man diese nun als gleichberechtigte Instanz neben anderen, speziell den menschlich kalibrierten Wirklichkeiten anerkennen. Was damit gewonnen sein soll, vor allem für die Vermittlung zwischen den jeweiligen Wirklichkeitsinstanzen, die nämlich im Gegensatz zu ihrer bloßen Anerkennung, die eigentliche Herausforderung unserer Zeit darstellt, ist mir schon auf rein philosophischer Ebene ein Rätsel. Bislang erscheint der Spekulative Realismus, zumindest der von Markus Gabriel und Armen Avanessian, eher wie rechthaberische Rabulistik, die nur neu ist im Sinne von anders, nicht im Sinne von weiterführend. Und dass es die eine Welt nicht gibt, werden wohl ebenso wenige bestreiten wie die Tatsache, dass es Einhörner gibt (das vielzitierte Lieblingsbeispiel von Gabriel) – zumindest in Filmen. Ich habe es jedenfalls noch nicht erlebt, dass ein Zuschauer wutschnaubend das Kino verlassen hätte, weil der Film fälschlicherweise behaupte, es gäbe Elfen und Hobbits. Indes scheint man innerhalb der Kunstwelt und ihrer Wirklichkeit durchweg begeistert von den schillernden, wiederbelebten Begriffen – Spekulation, Realismus, Materialismus – mit denen sich gewiss doch der ein oder andere Katalogtext auffrischen lässt. Missverständnisse garantiert.
Die beteiligten Philosophen, die bislang im akademischen Diskurs ihrer Disziplin nicht im Ansatz so viel Aufmerksamkeit genießen, fühlen sich verständlicherweise geschmeichelt. Womöglich spekulieren sie auch darauf, es ihren französischen Vorbildern gleichzutun und sich über die Hintertür des Kunstdiskurses für die philosophische Debatte zu qualifizieren. Dass sie bislang wenig von Kunst verstehen, ist dabei kein Nachteil und auch nichts, was man auf dem erwähnten Symposium zu kaschieren versuchte. Lieber rannte Gabriel längst ausgehängte Türen ein, wenn er dozierte, ein Kunstwerk befreie uns von der Idee, ein Objekt sei nur in den Begriffen einer alles vereinenden Natur zu verstehen, also der einen Wahrheit. Noch etwas durfte man lernen: Der Postmodernismus sei nur fälschlicherweise davon ausgegangen, es gäbe unendlich viele mögliche Interpretationen eines Kunstwerks. Jedoch: „The space of possible interpretations is limited – but it's definetly large.“ So large wie der Mehrwert des Symposiums, das übrigens im kommenden Jahr in gleicher Besetzung wiederholt werden soll. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Zurück zur Ausstellung: Hier sollte sich der Bezug zum Spekulativen Realismus also über eine Entsubjektivierung der ausgestellten Objekte und Materialien herstellen. Nur war davon kaum etwas zu merken – oder ist bereits von Entsubjektivierung zu sprechen, wenn Pamela Rosenkranz ihr Hautfarbrensortiment auf Spandex verteilt? Oder wenn Ken Okiishi mit blauer Farbe auf ein LCD-Display pinselt, dessen darin wiedergegebener „blue screen“ vorher mit HD-Kamera von einem Röhrenbildschirms abgefilmt und das resultierende Mov-Format anschließend noch bedeutungsschwer in ein MP4 umgewandelt wurde (kein Witz, die Arbeit gibt es wirklich)? Auch wenn beide einen offensichtlichen Drang zur Abstraktion verfolgen, möchte ich bezweifeln, ob sich dieser wirklich gegen den sozialen, subjektiv konfigurierten Kontext der gewählten Materialien, etwa der eines LCD-Displays, behaupten kann. Selbst wenn: Was wäre erreicht? Ein neuerliches Nachdenken über die Farbe an sich? Ein schwelgerischen Sinnieren über die Farbe als Haut der Leinwand? Oder entziehen sich die Objekte auch diesen profanen Kategorien und Begriffen und weisen direkt zu ihrem So-sein als „Ding“ mit eigener Welt und Wahrheit? Ohne die Moderne und ihrer ästhetischen Teleologie im Rücken wäre das bloße Esoterik und hätte auch mit Realismus nichts gemein.
Was war nun am Ende das Neue dieser Ausstellung? In einem kleinen Generationen-Gipfel künstlerischer Altersgenossen der Post-Internet-Art, vor Jahren publiziert im Art Magazin, erklärte Arne Schmitt seine Skepsis gegenüber dem Neuen einmal folgendermaßen: „Wenn ich mir etwas absolut Neues vorstellen soll, muss ich immer an eine unglaublich große, frei schwebende Schleimkugel denken.“ Einerseits wünschten sich die Organisatoren in Kassel für ihre Ausstellung wohl eine solche entsubjektivierte Schleimkugel (in 3D versteht sich), anderseits sollte es doch erklärtermaßen auch um den digitalen Alltag gehen. An Ersterem scheiterte man, weil es schlicht nicht möglich und schon der Wille dazu einigermaßen abstrus ist. Und wer nicht mal bereit ist, von der überkommenen Ästhetik des Postkonzeptualismus abzulassen, braucht von freischwebenden Schleimkugeln nicht zu träumen. Zur Verhandlung des digitalen Alltags wiederum fehlte den meisten Arbeiten eine überzeugende inhaltliche Verdichtung. Entweder als Folge allzu loser ästhetischer Anordnungen oder aufgrund der vorherrschenden Präferenz einer trendigen Aufbereitung gegenüber dem Versuch seinen Gegenstand in komplexeren thematischen Zusammenhängen zu entfalten. Selbst bei Simon Dennys materialintensiver Recherche zur Mediengeschichte des chronischen Ermüdungssyndroms übertrumpfte eine arg kreative Präsentationsform letztlich ihren Nachvollzug durch die Rezipienten, die zur Lektüre der versammelten Zeitschriftenartikel auf dem Boden kriechen mussten. So gab es Vieles, das im ersten Augenblick noch smart und neuartig erschien, aber nach näherer Betrachtung auch auf nichts Anderes abzielte, als eben diesen Anschein. Das Zeug zur Avantgarde hat ein solches Missverständnis künstlerischer Praxis allenfalls als visueller Ideenpool für die Kreativindustrie.
Kommentare
excellenter artikel, aber auch traurig. ich glaube mittlerweile, nachdem ich jahrelang diesen blog verfolgt habe, nicht mehr, dass er mehr als eine verklemmte grabesrede darstellt. die immer wieder überraschende offenheit, mit der hier geistige armut benannt wird, ist nach wie vor einzigartig und macht mir auch stets große freude, aber könnte es nicht sein, dass kunstszene einfach nichts für euch ist (zu schwul)? sucht euch dochmal ernstzunehmende gegner. oder menschen in deren partei ihr eintreten wollt, weil ihr sie wirklich verehrt. ihr seid für mich wirklich die stimme der vernunft, aber ich würde euch wünschen, dass ihr den sprung aus der kunstwelt schafft, denn ihr seid entschieden überqualifiziert...
ps interessiert ihr euch egtl für so ganz primitive kunst? richard serra und sowas...
kreativindustrie fungiert hier doch als visueller ideenpool für die künstlerische praxis, wenn ich das nicht missverstanden habe? wie immer also. auch genannt "alltagswelt ausloten" oder "readymade"...
Das ist doch weniger Grabesrede als nützliche Geburtshilfe. Ehrlich gesagt dachte ich mir jetzt schon bei den Hashtags und dann den beteiligten Galerien gleich: Au weia. Zu trendy und schnell. Sofort Verwertungsdruck und Coolnessbarometer. Falsche Reihenfolge. Wenn ständig einer hinter dir steht und schaut, ist das jetzt das neue, passiert da endlich das langersehnte neue, lass doch mal sehen, ich twitter das doch gleich mal... Oder wenn man andersrum ständig schielt, kuckt da denn jetzt auch jemand wichtiges schon drauf, wie liege ich da gerade im Konkurrenzfeld... War denen früher doch alles eher noch völlig latte, und daraus entstand die Radikalität, und auch aus echter Verzweiflung oder echtem Hass (das darf man ja auch nicht unterschätzen, das waren ja nicht immer nur Klischees oder leere Gesten oder Reenactments). Und aus verschobeneren Zeitlichkeiten. Früher haben die Leute doch oft unbeachtet und uncool jahrelang vor sich hingeschmort und vegetiert, bevor dann irgendwas mal zündete, was heute vielleicht viel kostet, weil es so gut war. Punk entstand doch nicht in zwei Jahren an der Popakademie. Wer kann sich das heute überhaupt noch leisten und wovon derweil leben? Das sind ja ganz praktische Fragen heute und waren es eben früher wohl mal nicht so sehr.
"Das Zwingende der Konzeptkunst erwächst nicht aus der Spröde ihrer Arrangements allein – es braucht die Radikalität der dahinterliegenden Behauptung", ja, aber das darf man heute doch nicht mehr, so eine Radikalität, weil es doch gar kein damit verbundenes "außen" mehr als Standpunkt gibt und geben soll. Unkonstruktiv radikales Dagegensein ist doch doof, unsmart, infantil und naiv und alle sind jetzt mit ihren Eltern befreundet. Das ist ja vielleicht einfach das Problem. Haben sie ja auch in der Musik oder Literatur, stagniert doch alles vor sich hin oder wühlt nur traurig im Archiv oder der eigenen Innerlichkeit, ohne dabei viel spannendes zutage zu fördern.
Und derweil würden ja noch viele Leute bestreiten, das überhaupt irgendwas im Argen liegt, "wieso, es passiert doch ganz viel spannendes", es folgt dann eine Aufzählung von topaktuellen Galerien und ihren neuen Stars. Und doch ist ja offensichtlich irgendwas faul daran.
Hallo! Könnt ihr nicht öfter Artikel schreiben? So ca. 1 - 3 im Monat? Damit wäre allen geholfen!!!
Bude hat recht. Helft uns!