Im neuen Standort der Galerie von Barbara Weiss in Kreuzberg sind im einzigen großzügigen Ausstellungsraum zwei Fotoserien von Boris Mikhailov zu sehen. Dabei scheint „Black Archive 1968-1979“ – in der Mitte des Raumes auf einem Holztisch liegend präsentiert – die zweite Serie thematisch vorweg zu nehmen: „Tea Coffee Cappuccino 2000-2010“ ist eine Sammlung von Momentaufnahmen aus der ukrainischen Stadt Charkow, in der Mikhailov in gewohnt gekonnter Manier Menschen im öffentlichen Raum zeigt, die in offiziellen Darstellungen lieber nicht gezeigt werden: betrunkene, sich entblößende Jugendliche; obdachlose, verwitterte Alte; öffentliche vermüllte Plätze. Besonders im Kontrast zu den älteren schwarz-weiß Aufnahmen fällt die Verwahrlosung und die Fülle an Werbung im öffentlichen Raum ins Auge. Bei den neueren Fotos handelt es sich weniger um Einzelporträts und kompositorisch ausgefeilte Details aus dem Stadtleben, als um belebte Straßenszenen.
Eine der eindringlichsten Serien zeigt eine Frau, wie sie mitten auf einem belebten Platz uriniert. Zur Irritation über die Ausführung dieser intimen Handlung gesellt sich die Verwunderung über diesen selbstverständlichen Gebrauch des öffentlichen Raumes. Mikhailov schafft eindringliche wie beunruhigende Porträts vom postsozialistischen Charkow. Er zeigt ziemlich schonungslos die Verwahrlosung, Abstumpfung und Alkoholfluchten der Einwohner der Stadt. Aber nicht nur das Elend gerät hier in den Blick, sondern auch die Lebensfreude der Menschen. Neben selbstbewusst grinsenden Halbstarken berührt dabei besonders das Bild einer alten Frau, die barfüßig, in sich versunken, auf der Straße tanzt.
Oftmals fasst Mikhailov in einem Rahmen mehrere Bilder zusammen, die wie eine Serie funktionieren oder sich gegenseitig ergänzen. Dabei sind die Bilder nicht einzeln aufgeklebt, sondern als Ganzes auf Fotopapier ausgedruckt. Das wirkt elegant aber unaufdringlich. Der Ausstellung gelingt es, durch das Zusammenstellen von zwei Werkkomplexen zu Vergleichen zwischen den Arbeiten anzuregen und auf subtile Weise auf die Veränderungen des öffentlichen Raumes und seiner Benutzer hinzuweisen, ohne dass dies allzu didaktisch wirkt.